SoS – Vorwort

Ich war 42 Jahre alt und seit 1972 geschieden. Mein 22 jähriger Sohn Ricky hatte sein eigenes leben, eine eigene Wohnung, gute Arbeit und viele Freunde. Unser Kontakt war liebevoll und lebendig. Eigendlich hatte ich all das erreicht was ich wollte und doch konnte ich meine Rastlosigkeit nicht erklären. Parties, Konzerte, Wochenend-Trips linderten meine inneren Spannungen nicht und die schleichend wachsende Unsicherheit war nur noch schwer zu kontrollieren. Trotz der guten sozialen Voraussetzung, viele Freunde, gutem Verdienst und einer schönen Wohnung, projizierte ich Bilder aus meiner Kindheit auf mein Alltagleben, vor allem auf die Menschen um mich. Ein immer stärker werdendes Gefühl von Panik trieb mich letztendlich zu der Entscheidung: Ich musste weg, raus aus Deutschland. Die Menschen, mit ihrer Selbstgerechtigkeit und der Art, andere zu kontrollieren, erstickten mich. Ich konnte die Engstirnigkeit und die eingebrannten Regeln – “das haben wir schon immer so gemacht” – nicht mehr ertragen. Bedürfnisse oder Individualität haben keine Existenzberichtigung, wenn sie nicht gewinnbringend dem gesellschaftlichen Wohl dienen. All das erinnerte mich an meine Kindheit, wo ich ein Niemand war oder höchstenfalls als benutzbar bewertet wurde.

Im Januar 1991 faste ich den Entschluss nach Amerika oder Australien zu gehen. Zur selben Zeit bot mir ein Bekannter die Gelegenheit einer geschäftlichen Partnerschaft und dadurch die Möglichkeit, eine Firma, wie ich sie bis 1986 in Fürth hatte, in Kalifornien aufzubauen. Dieses willkommene Angebot unterstützte meine Bedürfnis einer Auswanderung und somit war mein erstes Ziel Amerika. Nach einer Aussprache mit Ricky, der mich ermutigte, stand meinem Plan nichts mehr im Weg. Anfang Februar verkaufte ich ein paar wertvolle Dinge. Anfang März kaufte ich ein Ticket nach Chicago und setzte für den kommenden Samstag eine Annonce in die Nürnberger Nachrichten “Haushaltsaufgabe, alles zu verschenken”. Am Abend war meine große Wohnung leer. Ich hatte zwei Koffer mit Kleidern, Bildern und kleinen persönlichen Erinnerungen gepackt und wohnte für die verbleibenden Tage bei meiner Freundin Bertha.

Am 4. April landete ich in Chicago, wo ich erst mal drei Wochen Urlaub machte. Richard, ein US-Offizier, den ich aus Deutschland kannte, zeigte mir das aufregende Chicagoer Nachtleben mit den vielen Blues- und Jazz-Clubs. Ende April setzte ich meine Reise zu meiner Endstation fort. In Sacramento sollte ich laut Vertrag ein Haus bewohnen, das groß genug war, um mit meiner ersten Kleider-Kollektion zu beginnen. Meine Zukunft in meinem selbstgewählten Land, mit Menschen die ganz anders waren, war gesichert, glaubte ich.

Die Wirklichkeit aber war ein neues Trauma. Oder war es die Fortsetzung von dem, das ich schon seit Jahren kannte. Gleich nach der Ankunft in San Fransisco sollte ich wie geplant von der Ex-Frau meines Vertragspartner, die Deutsche war, abgeholt und zu dem Haus das auf mich wartete gebracht werden. Aber niemand holte mich ab.

Ich verbrachte die nächsten vier Tagen in einem Hotel in San Fransisco. Nach endlosen Telefonaten mit meinem Geschäftspartner, der noch in Deutschland war und dessen Exfrau erkannte ich den Schwindel. Letztendlich musste ich akzeptieren dass es kein Haus gab und der geschlossene Vertrag war wertlos. Als letzte Möglichkeit wurde mir angeboten mit dem Greyhound Bus nach Sacramento zu fahren, wo ich dann von Brigitte, der Stieftochter meines Geschäftspartners, abgeholt wurde. Ich wollte auf keinen Fall zurück nach Deutschland. Hoffungsvoll nahm ich dieses Angebot an.

Brigitte lebte mit dem drogenabhängigen Vater eines ihrer drei Kinder im Getto. Kakerlaken bewohnten die Küche, in der nie gekocht wurde. Trotzdem türmte sich Wochen altes Geschirr das für die Take-outs irgendwann mal gebraucht wurde.

Vier Tage später stellte fest, dass mein restliches Geld von Brigittes Mann gestohlen worden war. Hoffnungslos und mittlerweile nahe eines Nervenzusammenbruchs, lernte ich Tage später Bennie kennen. Bennie, begeistert von meiner exklusiven Kleidung wollte wissen, was mich nach Sacramento brachte. Ich erzählte ihr meine Geschichte. Sie machte den Vorschlag, zu ihr zu ziehen und gemeinsam ein Geschäft aufbauen. Das Angebot nahm ich gerne an. Bennie lebte mit ihrem Mann in einem großen Drei-Schlafzimmer-Haus in der teuersten Gegend von Sacramento.

Schon Tage später erhielt ich, durch Bennie’s Beziehung zu einer Kirche in Sacramento, einen Auftrag, der mein Leben für immer änderte. Ich entwarf und fertigte die zwoelf Flaggen der Stämme Israels. In den folgenden sieben Monaten lernte ich nicht nur viele Menschen kennen und erhielt begeisterte Komplimente für meine Kunst, ich lernte auch meinen Mann kennen. Trotz meiner kreativen Arbeit und scheinbar gutem Leben in einer luxuriösen Umgebung spürte ich die wachsende Unruhe und erkannte, dass ich deprimiert war. Es war nicht alles rosig. Schon zwei Monate später musste ich mich wehren. Bennie’s 72jähriger alter Vater, der zu Besuch war, versuchte eines Nachts in mein Bett zu schlüpfen. Nachdem Bennie 80 % des Verdienstes meiner Arbeit für Kost und Logie einbehielt, beschloss wieder nach Deutschland zu gehen. Ich rief das Deutsche Konsulat in San Fransisco an und bat um Hilfe.

Am 17. November lieferte ich die letzte Flagge in der Kirche ab. Es sollte mein letzter Sonntag in Sacramento, in der USA sein. Meine Flugtickes lagen bereit und war der Rückflug war für Dienstag geplant. Ich sagte Wiedersehen zu allen neugewonnen Freunden. Nach dem ich viele Hände schüttele und letzte Umarmungen wollte ich noch einmal in die Kirche wo die Flaggen hingen. Ich rannte durch den Regen von der Gemeindehalle über den Hof. Im Foyer verloren meine vom Regen nassen Stöckelschuhe den Halt und der Boden unter meinen Füßen war weg. Ich fiel auf das Steißbein und war für Sekunden bewusstlos. Als ich die Augen wieder öffnete spürte ich einen unbeschreibleichen Schmerz und wusste, dass mein Steißbein verletzt war. Im gleichen Moment sah ich drei Männer mit sorgenvollem Blick um mich stehen, die mir die Hand um aufzustehen reichten. Alex war einer davon. Er aber war derjenige der meine Hand nicht mehr losgelassen hat und heute mein Mann ist.

Mein Rückflug nach Deutschland musste verschoben werden, da das Steißbein gestaucht war und ich mit dem Bluterguss nicht sitzen konnte. In dieser Zeit bat mich mein heutiger Mann seine Frau werden. Ich erklärte mit meinem bisschen Englisch, dass ich seit 19 Jahren geschieden bin und eigentlich nicht mehr heiraten wollte. Er gab nicht nach und lies nichts versucht, mich während meiner sechswöchigen Genesung umzustimmen. Alex gewann. Ich sagte ihm aber, bevor wir heiraten musst du wissen wer ich wirklich bin.

Alex hatte sich von seiner vorherigen Frau im Mai 1991 getrennt. Er lebte aber noch in dem großen Haus. Mit ihm als als Alleinverdiener, ich hatte keine Arbeitserlaubnis und konnte finanziell nichts beitragen, konnten wir das Haus nicht bezahlen. Im Januar 1992 zogen wir in ein kleines Stadthaus mit zwei Schlafzimmern und planten die Hochzeit für Juli. Mein ursprünglicher Wunsch in die USA zu gehen, um viel Geld zu machen, war plötzlich Nebensache geworden. Beschäftigt damit, das Haus zu dekorieren sagte ich mir, eigentlich habe ich alles, was sich ein Mensch wünschen konnte.

Aber die Depressionen waren immer mehr spürbar.

Ende Januar erwachte ich um 2 Uhr morgens von einem Alptraum. Es war der gleiche und immer wiederkehrende Traum, den ich seit meiner Kindheit hatte. Ich konnte nie deutlich erkennen was mir so viel Angst einjagte. Ich lag wach neben Alex, der ruhig schlief, und fragte ich mich, warum ich wirklich nach Amerika gekommen bin. Die ehrlich Antwort war, ich wollte meiner Vergangenheit, meiner Kindheit entfliehen. Aber ich konnte die Wahrheit nicht noch länger leugnen. Die 12.000 km Distanz von Deutschland existierten für mich in Wirklichkeit nicht. Der Traum öffnete ein Fenster zur Vergangenheit. Das zu leugnen wäre ein erneuter Selbstbetrug. Meine Kindheit klebte an mir, sie war ein Teil meines Ichs. Ich musste erkennen, dass die Erinnerung an meine Kindheit lebte, obwohl ich diese seit 38 Jahren zu unterdrücken versuchte.

Ich erinnerte mich an meine Worte, die ich Alex gesagt hatte: “Du musst erst wissen wer ich bin”. Was soll ich tun? Wie lange soll oder kann ich meine Vergangenheit noch verstecken? Wie lange kann ich das falsche Rollenspiel noch hinausziehen, ohne dass mich Kindheit völlig verzehrt?

Ein Sekunden-Gedanke war, entweder jetzt oder nie.

Vorsichtig schlich ich mich aus dem Bett und die Treppe hinunter. Das Haus war kalt und ich holte mir meine warme Wolldecke, die ich aus Deutschland mitgebracht hatte und setzte mich ins Frühstückszimmer, mit einem Kugelschreiber und einem dicken Schreibblock. Meine ersten Worte waren: “Ich schäme mich, über meine Kindheit zu schreiben”.

Es gab keine Halten mehr. Die Türen zur Erinnerung waren weit offen. Die Regression in die Vergangenheit begann. Die Worte auf dem Papier waren die eines Kindes das endlich die Gelegenheit hatte die Qualen einer Kindheit auszusprechen. Fast unaufhaltsam und mit nur wenig Schlaf- und Essenspausen schieb ich, bis Ende März über 800 Seiten.

Alex konnte nicht Deutsch lesen und vorerst war ich auch noch nicht bereit, irgend jemanden das lesen zu lassen, was ich 42 Jahre lang versteckt halten musste.

Mit jedem geschrieben Kapitel bemerkte ich einen fortschreitenden Veränderungsprozess, den ich mir nicht erklären konnte, den ich aber willig akzeptierte. Es schien so als ob der emotionale Strick um meinen Hals, der mich in jahrelangem Schweigen gefangen hielt, sich langsam lösen würde.

Aber der Tag kam, an dem ich sehr deutlich merkte, dass ich eine Pause, einen Abstand brauchte. Nur schwer konnte ich die Geschehnisse der Vergangenheit von der Gegenwart trennen. Die emotionale Seite meines Gehirns war in Aufruhr und diktierte seit dem Begin des Schreibens mein Leben. Die Erinnerungen waren unkontrolliert und ungeordnet. Manchmal schieb ich mehrere Geschichten zur gleichen Zeit. Noch erkannte ich die Zusammenhänge, die zu meiner Depression führten nicht wirklich. Ich brauchte eine Pause und ohne Zweifel musste ich die Vergangenheit, die mich komplett vereinnahmt hatte, für eine kurze Weile ruhen lassen.

Als Alex für eine Woche auf Geschäftsreise in den Süden Kaliforniens musste, nutzte ich diese Gelegenheit und fuhr mit ihm.

Der Abstand erlaubte meinem logischen Denken wieder die Oberhand zu gewinnen. Überzeugt sagte ich, genug! Ich habe mir alles von der Seele geschrieben. Nun wollte ich mich nicht mehr mit der Vergangenheit beschäftigen. Die restlichen Erinnerungen werden entweder wieder begraben oder vergessen. Trotz all meinen Versuchen, mich selbst zu überzeugen konnte ich jedoch der immer gegenwärtigen Angst nicht ausweichen und wusste, dass meine Ablenkungsmanöver ein Selbstbetrugmanöver waren.

Mitte Februar musste Alex zu einem Seminar und ich war für eine Woche allein. Schon in der ersten Nacht erwachte ich von einem Albtraum. Es half nichts sagte ich mir und erinnerte mich an mein Versprechen an mich selbst, die Wahrheit zu konfrontieren. Fast widerwillig öffnete ich den dicken Umschlag mit den losen Blättern. Schon beim Lesen der ersten Zeilen erkannte ich, wie die Vergangenheit und meine Kindheitserlebnisse eins mit der Gegenwart wurden. Ich fühlte und erlebte wieder das Trauma meiner Kindheit mit jedem Satz, den ich las. Alle Emotionen waren wieder wach, als ob es gerade eben erst geschehen wäre. Ich fühlte die Hilflosigkeit in jeder einzelnen Geschichte, die ich als Kind so oft gespürt hatte. Zwischen den Zeilen waren überwältigend die alten Gefühle von Scham, Schande und Schuld deutlich.

Die Regression war total. Mit aller Klarheit erkannte ich, dass das Trauma, das all die Jahre in Bildern und Gefühlen lebendig mit mir lebte. Es war nicht die 42jährige Frau, die ihre Kindheit beschrieb, es war das Kind, das mit dem eingeschränkten Vokabular eines Kindes die Geschehnisse der Vergangenheit zu Papier brachte. Schreiben gab mir die erste Möglichkeit einer Befreiung die erdrückende und verwirrende Last bildhaft und so, wie ich es fühlte, zu beschreiben.

So entstand das Manuskript, in dem ich ohne Beschönigung erzähle, wie ich meine Kindheit erlebte. Es soll eine Stimme sein für die, die wissen was Schmerz, Erniedrigung, Seelenleid, Not, Hunger, Einsamkeit, physikalisches and mentales Leid heißt. Vor allem aber soll meine Geschichte ein Zeuge sein, wie wir als Erwachsene noch immer unter dem erlebten Kindheitstrauma leiden.