SoS – 14 Die Diebe

Es war wie ich vermutete. Das Geld reichte gerade über die Weihnachtsfeiertage. Es war kein Essen mehr im Haus, und das Heizöl war gestern schon zu Ende. Wir saßen alle in der Küche und verschürten altes was brannte.

Die Alte kam nach Hause und erzählte, dass Er auf der Chorprobe sei und vielleicht Geld nach Hause bringe. Wir müssen etwas zu essen kochen für Euren Vater, aber was? Sie schaute Nigg und mich an. Ich kannte den Blick, der bedeutete nichts Gutes. Sie schickte Siegfried und Hans aus der Küche und sagte. Ich muss Euch etwas fragen, aber das brauchen die Kinder nicht zu hören, die sind noch zu klein.

Seit langem wurden wir als Erwachsene bezeichnet, sobald es ernst wurde. Die Prügel blieben die gleichen, und wir waren, laut Aussage unseres Alten genauso blöd wie vor Jahren. Wir würden jetzt nur mehr fressen und grössere Schuhe brauchen. Sie fing an Nigg zu manipulieren und fragte ihn, ob er auch gelernt hätte, wie man ein Schloss ohne Schlüssel aufmacht und ohne Spuren zu hinterlassen. Nigg, dessen Leben die Kfz-Werk statt war und der als Zehnjähriger mit den Mechanikern Motoren ein- und ausbaute, stellte sofort bildlich seine Fähigkeit dar. Hatte er nicht begriffen auf was die Alte hinaus wollte?

Als er dann wusste um was es ging, war ihm garnicht mehr wohl in seiner Haut. Sie überzeugte ihn, dass, wenn er das Schloss an der hinteren Lebensmittelladentür aufbräche ohne Spuren zu hinterlassen, wir alle etwas zu essen hätten, und morgen würde sie ja von dem Geld, das er heimbringe, einkaufen gehen.

Sie überzeugte ihn, dass, wenn sie es machen würde und dabei erwischt werden würde, sie ins Gefängnis käme, und dann müssten wir mit unserem Vater leben und hätten keine gute Stunde mehr. Ich fragte mich, hatten wir je eine, kann das noch schlimmer werden? Sie beruhigte Nigg und erzählte ihm, dass Kinder nicht ins Zuchthaus kämen, weil es als Mundraub gilt, wenn man Lebensmittel stiehlt. Nigg willigte ein, aber wir mussten warten, bis es mindestens zwanzig Uhr war, damit uns durch die grossen Glasscheiben niemand sehen konnte. Ich erfuhr gleich, was mein Teil an dieser Aufgabe war. Sie machte eine Liste, was wir brauchten, und ich musste sie auswendig lernen, weil wir ja kein Licht machen konnten. Sie erklärte uns haargenau den Plan. Sie machte alle Lichter im Haus aus. Sie stellte sich ans Schlafzimmerfenster, wo sie beide Strassenrichtungen einsehen konnte, weil der Laden genau darunter lag. Einmal klopfen o.k., zweimal klopfen Vorsicht. Wir gingen die Treppen hinunter. Vor der Ladentür kamen mir wieder grosse Bedenken, ich teilte sie Nigg mit. Er meinte, wir stehlen Essen und nicht nur für uns. Wir haben keine andere Chance. Diesesmal betete ich nicht, weil ich glaubte, Gott will ab heute nichts mehr mit mir zu tun haben.

Das Schloss im Dunkeln zu öffnen war schwer, aber Nigg schaffte es irgendwie. Er ging zur Haustüre und hielt Wache. Schnell schaltete ich ab, weil ich mir sagte, es gibt keine andere Mahl und ging durch die Tür, Da war es wieder: Die Übelkeit stieg vom Magen hoch, aber diesesmal bekam ich auch noch Kopfschmerzen. Ich konnte mich nicht mehr besinnen, was ich alles einpacken sollte.

Irgendwie schaffte ich es, die mitgebrachte Schachtel mit den benötigten Dingen voll zu machen und sie ohne Zwischenfälle nach oben zu schaffen. Das war zuviel für mich. Als Nigg zurückkam, sagte er, Du bist weiss wie die Wand, und ich war der Alten fast dankbar, dass ich gleich ins Bett durfte. Ich hatte keinen Hunger mehr, nur noch Kopfschmerzen und die Übelkeit im Magen. Trotzdem entwickelte ich immer mehr Widerstand gegen all das Verlangte und suchte Wege, die es mir möglich machten, Essen ins Haus zu schaffen ohne zu stehlen.

Die Nachbarin erlaubte mir, jeden Tag zwei Stunden auf ihre Kinder aufzupassen, und ich bekam drei Mark dafür. Ich glaube heute, sie wusste, was passiert war und wollte helfen. Das war freilich nicht genug, und wir mussten den Diebstahl noch zweimal wiederholen. Zu dieser Zeit war mein Gefühl für Recht und Unrecht vollkommen ausgeprägt, und ich suchte immer nach Gerechtigkeit, doch war es mir nicht gegönnt, sie zu erleben. Ich hielt trotzdem daran fest und festigte mich in dem Glauben, dass, wenn ich erwachsen wäre, ich Gerechtigkeit nicht nur predigen, sondern auch praktizieren würde.

Ich sah mich immer mit einem Strick um den Hals und einen Stuhl unter meinen Füssen. Immer wenn einer meiner Eltern den moralischen Stuhl umstieß, hielt ich mich mit den Händen am Strick fest und richtete den Stuhl wieder mit den Füssen auf. Eines war klar: Ich musste es selbst tun, da ich von niemandem Hilfe erwarten konnte, und da waren noch meine drei jüngeren Brüder. Die instinktive Verantwortung, die ich nie haben wollte, war da und zehrte mich aus.

Mein Vater sagte einmal, dass wir außer zum Betrug und Stehlen zu nichts zu gebrauchen wären, die Kriminalität sei uns angeboren, aber es käme nicht von seiner Genseite. Meine Eltern schafften es Verantwortung zu übertragen, indem sie Schuldgefühle weckten, damit sie für illegale Handlungen nicht verantwortlich gemacht werden konnten und somit nach außen hin eine weiße Weste behielten.