SoS – 01 Es war ein sonniger Sonntagmorgen

Immer wieder einmal zog es mich nach Harburg, doch wenn ich dort war wollte ich nur zwei Plätze besuchen. Die Burg, wo ich für Stunden auf einer Bank außerhalb der mächtigen Burgmauer nahe dem Wanderweg saß und auf die Stadt hinunter schaute. Als dann meine Augen vom süden über die Häuser, das Schulhaus, die Wörnitz-Brücke nördlich zum Hüllenloch schwebten wurden Erinnerung wach die mich unruhig machten. Um die trüben Gedanken wegzuwischen wanderte ich von der Burg hinunter in die Donauwörther Strasse, zum Haus indem ich geboren wurde. Wenn ich aber dann vor meinem Elternhaus stand, das Opa baute, war das unangenehme Gefühl wieder dominant. Die Haustüre, oberhalb der großen Landen Fenster und jedes einzelne Zimmerfenster im Obergeschoss erzählten Geschichten die ich lieber nicht mehr wissen wollte. Das alte Gefühl von Angst und Scham wurde lebendig. Nein, ich wollte diese Erinnerung nicht wach werden lassen, ich suchte nach schönen Erinnerungen. Schnell lenkte ich meine Augen zum Nachbarhaus, auf das Fenster das auf den gemeinsamen Hof blickte. Ein wohliges Gefühl erweckte eine frühe, immer noch lebendige liebliche Kindheitserinnerung an die Kunzmann Oma.

Bei den Kunzmanns war ich genauso zu Hause wie bei Opa und Lella. Da war die junge Theresa, die Kunzmanns-Oma und die alte Großmutter, die immer im Bett lag. Wenn es mir bei Lella langweilig war; ging ich halt über den Hof und klopfte ans Küchenfenster. Die Kunzmanns- Oma machte auf und ich stieg durchs Fenster ein. Die Haustüre habe ich nie benutzt. Die Kunzmanns-Oma hat sehr gerne Geschichten erzählt, aber ihre Lieblingsgeschichte war der Tag meiner Geburt. Sie setzte sich auf ihren Stuhl beim Fenster und ich auf ihren Fuß-Schemel vor sie, dann fing sie an zu erzählen.

Schon seit Samstag hatte es die Maria sehr schwer. Deine Oma und die Hebamme waren die ganze Nacht bei ihr. Die Busers-Mutter war auch noch sehr lange drüben, und die Strobel hat das Bett noch frisch überzogen.

Am Sonntagmorgen, den 27. März , als die Sonne aufging, kurz nach sechs Uhr, da war es dann soweit. Ja, sie hatte es wirklich schwer, dann war aber alles vorbei. Dein Opa hat aus dem Schlafzimmer der Buser Mutter zugerufen: “Es ist ein Mädchen!”

Alle, die schon auf waren, kamen. Der Buser-Vater, der Metzger war, brachte gleich einen frisch­gebackenen Leberkäse und sagte, die Maria sollte den gleich essen, damit sie wieder zu Kräften käme und genug Milch für den kleinen Hebbr hätte.

Du warst alles, bloß nicht klein, Du hattest über acht Pfund, drum hatte es Deine Mutter auch so schwer. Deine Oma und die Hebamme hatten mit den anderen in der Küche gesessen und Kaffee getrunken, und es wurden gleich Pläne für Dein Leben gemacht. Es war ja allen klar, daß man etwas extra tun muß, weil Du ein Sonntagskind warst und deshalb auch etwas besonderes. Sonntagskinder sind Gottes Lieblings­kinder und bekommen ein bisschen mehr Gaben und auch ein bisschen mehr Segen als die anderen.

Dann war es Zeit für die Kirche, es ging aber heute niemand aus Eurem Haus. Dein Großvater hatte Dich warm eingepackt und war mit Dir schon auf der Strasse. Er hat Dich allen Leuten gezeigt, die auf dem Weg zur Kirche am Haus vorbei kamen. Deine Lella hat fürchterlich mit ihm geschimpft, weil sie Angst hatte, dass Du Dich erkältest, aber Dein Opa sagte, die ist so gesund und kräftig, das macht der nichts aus. Die Leute müssen doch mein Mädchen sehen. Du warst sein Mädchen, und es hat ihn nie gestört, dass sich Dein Vater darüber ärgerte. Es war überhaupt keine Frage, dass du bei Deinen Großeltern aufwächst. Sie konnten deine Mutter nicht verstehen, dass die deinen Vater als Mann haben wollte. Sie nannten ihn den faulen Studierten.

Aber diese anmutige Erinnerung endet hier.