SoS – 16 Die Konfirmation

Manchmal durfte ich in den Konfirmandenunterricht, den die Frau von unserem Stadtpfarrer unterrichtete. Je mehr ich den Katechismus kennenlernte, desto mehr fühlte ich mich schuldig und glaubte, dass Gott Kinder wie uns nicht in den Himmel lässt. Ich glaubte an die zehn Gebote, nur mit einem war ich überhaupt nicht einverstanden: ‘Du sollst Vater und Mutter ehren’. Schritt für Schritt lernte ich, dass das, was ich fühlte, auch richtig war. Aber wie sollte ich mich wehren? Die zehn Gebote sind nur für die Christen, die alles haben was sie brauchen und nichts arbeiten wollen, sagte die Alte. Ich aber wollte christlich sein und arbeiten, weil ich die Gebote Gottes verstehen konnte und glaubte, dass das die einzigen richtigen Gesetzesparagraphen seien.

Wir waren mit einem Schulfreund, in dessen Vaters VW-Bus auf dem Weg um Holz für den Küchenofen zu stehlen. Ich erzählte Nigg, was ich im Konfirmandenunterricht gelernt hatte und dass das Stehlen eine Sünde sei. Er widersprach nicht, er sagte nur, wenn es einen Gott gibt, der alles sieht, dann sieht er auch, dass wir das alles nicht tun wollen. Was er sagen wollte, verstand ich wohl, egal wie man es verstehen oder auslegen wollte, es blieb trotzdem stehlen, und ich fühlte mich nicht besser. Seitdem wussta ich, dass Nigg ebenso dachte und garnicht stehlen wollte. In dieser Nacht mussten wir sehr weit fahren. Sie sagte, sie hätte einen großen Holzstoss in Amerdingen gesehen, das waren ja mehr als zwanzig Kilometer von Harburg. Wenn uns nur die Polizei aufhalten würde, dann müssten wir nicht andere Leute bestehlen.

Nigg verstand, was ich damit sagen wollte, aber er meinte, wie sollen wir dann kochen und die Küche heizen. Seit langem hatten wir den Gedanken aufgegeben, dass die Eltern etwas unternehmen um die Situation zu ändern. Wir kamen gar nicht auf die Idee, dass nicht die Kinder für die Familie sorgen müssen, sondern die Eltern. Egal für was, ich war immer für alles verantwortlich, weil ich die Älteste war. Sogar das Stehlen musste perfekt klappen. Auf unseren Fahrten waren wir meistens sehr still oder wir ermutigten uns gegenseitig, dass, wenn wir damit Erfolg hatten, der Alte endlich einsieht, dass wir gar nicht so blöde sind und auch etwas fertig bringen. Ein gutes Gefühl war es nicht zu stehlen, aber es half, den Alten ruhig zu stimmen. Außerdem meinte Nigg, wir müssen das nicht mehr lange machen, die Alte macht mit dem Yüldirimlar ein Ex- und Import-Geschäft. Die bringen dann Sachen aus der Türkei und verkaufen sie in Deutschland. Sie hat nur noch nicht das Geld.

Meine Gedanken waren in den letzten Tagen immer bei meiner bevorstehenden Konfirmation und dem Kleid, dass ich dazu brauchte. Ich fragte meine Handarbeitslehrerin, ob ich mir in der Schule ein Kleid nähen dürfte. Sie versprach mir sogar dabei zu helfen, weil sie immer sagte, ich hätte ein außer­gewöhnliches Talent für Farben und Design. Es wurde aber nichts daraus, denn ich bekam keinen Stoff für mein dunkelrotes Konfirmationskleid mit vielen kleinen Schlingen vorne, und die Knöpfe sollten weiße Kugeln sein wie Perlen, der Rock natürlich eng.

Ab der Konfirmation darf man ja enge Röcke und hohe Schuhe tragen, und man bekam die erste Dauer­welle. Wir Mädchen sprachen in der Schule nur noch von unseren Kleidern und den Schuhen. Heidi bekam zwei Paar wunderbare Stöckelschuhe, das eine Paar war schwarz mit einer Samtschleife, und das andere Paar war aus rotem Lackleder. Die roten Lackschuhe waren ein Traum und alles was ich mir wünschte. Eines Tages zertrennte ich einen weiten Rock, der rot-schwarz kariert war und nähte einen engen Rock daraus und versteckte ihn. Es war ein Sonntag, an dem ich in die Kirche musste, weil nur dann konfirmiert wurde, wenn wir mindestens zwei Mal im Monat in der Kirche waren.

Die Alten waren irgendwo unterwegs wegen des neuen Geschäftes das sie planten. Ein Festtag für mich. Nach der Kirche sagte Heidi mir, dass sie einen Freund habe, der bis von Neuburg jeden Sonntag kommt und sie dann mit ihm spazieren gehe. Heute würde er seinen Bruder mitbringen und ich solle doch mitkommen, damit der nicht alleine spazieren laufen müsse. Das war der Moment für mich. Ich willigte ein, aber nur, wenn sie mir ihre roten Schuhe borgte und ihren schwarzen Pulli. Wir holten die Schuhe und den Pulli, und ich zog mich um. Als ich fertig war, sagte Heidi, Du siehst ja toll aus und so erwachsen, der wird sich gleich in Dich verlieben. Ich fühlte mich auch so.

Nigg sah mich, er schüttelte den Kopf. Das sage ich den Alten, dass Du so rumläufst, dann kriegst Du es wieder. Wir Geschwister verstanden uns nur, wenn es gegen die Alten ging, ansonsten waren wir wie Hund und Katze. Es war mir in diesem Moment gleichgültig, was hinterher kam, ich fühlte mich unbeschreib­lich gut und toll, und ich wollte das auch zeigen. Wir gingen zuerst über den Marktplatz, wo immer die großen Buben standen. Langsam gingen wir in Richtung Kino, und die haben doch wirklich gepfiffen. Nie zuvor bekam ich ein Kompliment, und es hat mir auch keiner nachgepfiffen. Um ein Uhr gingen wir dann ins Gras, dort traf sich Heidi immer mit ihrem Freund.

Werner, sein Bruder, sah toll aus, aber was viel wichtiger war, er hatte wunderschöne blaue Augen und war sehr freundlich, gar nicht so frech wie die Jungen in unserer Stadt. Er war auch schon siebzehn Jahre alt und hatte viel Erfahrung. Er fragte mich, ob er beim Spazieren gehen meine Hand halten dürfte. Er

erzählte mir, dass er im Juli mit der Mittelschule fertig sei und dann in einem Hoch- und Tiefbaubüro als technischer Zeichner arbeiten werde. Wir sahen uns noch, bis ich aus der Schule kam. Es ist noch eine Woche bis Palmsonntag, und ich hatte kein Kleid, und es interessierte weder den Alten noch die Alte. Immer wenn etwas wichtiges in meinem Leben war, war ich auf mich all eine gestellt. So wie die Auszeichnung, die ich von der Schule bekam für mein Bildkunstwerk, das offiziell als das beste nominiert und an einem Elternabend vorgestellt wurde. Mein Vater bezeichnete es als modernen Kitsch, aber die Lehrer waren einer Meinung, dass es wert sei, meine Begabung zu fördern und mich aufmunterten, nie mein Talent verkümmern zu lassen.

Für mich war klar, dass, wenn ich kein Kleid habe, ich mich auch nicht konfirmieren lasse. Ich hatte schon einen Plan, wann und wie ich ausreiße an dem Sonntag Morgen. Am Freitag kam meine Patin und brachte mich zum Friseur, und ich bekam eine Dauerwelle. Ich sagte ihr, sie solle ihr Geld sparen, ich hätte ja auch kein Kleid. Sie beruhigte mich und erzählte mir, das meine Mutter das Kleid von der Margitt bekäme. Am selben Abend sah ich auch das Kleid. Es war aus schwarzem Samt und sah aus wie die Kleider der alten Bauernweiber. Der Rock war fast knöchellang und weit, und ich sah fett darin aus. Die Schuhe waren zu gross, da wurde halt Papier in die Spitze gestopft, und ich hatte auch keine Bibel. Ich hasste das Kleid, aber es war besser als keines, und ich konnte wenigstens zur Konfirmation. Was sollte ich am Tag der Vorstellung anziehen?

Alle hatten neue Kleider für diesen Samstag, an dem wir der Gemeinde als Konfirmanden vorgestellt wurden. Heidi hatte ihre roten Lackschuhe an, und alle waren so schön, nur ich musste in meinem alten Schul rock und den alten Schuhen gehen. Das verzeihe ich den Alten nie, dachte ich. Das war doch der wichtigste Tag in meinem Leben, und ich musste ihn mit soviel Wut im Leibe verbringen, nur weil denen nichts wichtig war, was uns Kinder am Palmsonntag betraf. Als die Bilder gemacht wurden, sträubte ich mich und wollte mich nicht fotografieren lassen. Habe es dann doch getan, aber nur weil meine Schulfreundinnen mich dazu überredeten und ich in der letzten Reihe stehen durfte und somit niemand das hässliche Kleid sah.

Nach der Kirche gingen dann alle zu ihren Festessen und zu den eingeladenen Gästen nach Hause. Die meisten feierten in einer Gaststätte dieses wichtige Ereignis mit ihren Familien, die schon in der Kirche dabei waren. Nur ich war alleine, und es gab auch kein Festessen und keine Geschenke, nur von meiner Patentante bekam ich vier wunderschöne Handtücher und eine schöne Tischdecke für meine Aussteuer. Von wegen Aussteuer. Die Konfirmation war außer der kirchlichen Zeremonie ein wichtiger Schritt im Leben

eines Mädchens. Das war der Tag, wo man anfing, für die Hochzeit Geld und die Aussteuer zu sammeln. Nicht in unserem Haus. Meine Handtücher wurden am nächsten Tag zum Eigentum meines Vaters erklärt, der darauf’ hinwies, dass sie niemand außer ihm benutzen dürfe. Meine Tischdecke wurde verkauft, und die hundert Mark verschwanden auch. Ich musste mich aber für alles schriftlich und herzlich bedanken.

Eine Woche später sind Nigg und ich zum Opa gefahren, weil wir in der Nähe sowieso eine Rechnung kassieren mussten und die genauso falsch war wie die andere. Opa freute sich sehr. Er fragte gleich, ob unsere Mutter uns geschickt hätte. Wir sagten ihm, dass sie nichts davon wisse und er auch nichts sagen solle. Er meinte, Eure Mutter kommt sowieso nicht oft und wenn sie kommt, will sie nur Geld. Beim Essen, das uns die Tante gemacht hatte, fragte ich, warum er nicht zu meiner Konfirmation wenigstens in die Kirche gekommen sei. Er schüttelte nur den Kopf und fragte mich, ob ich ein schönes Kleid gehabt und viele Geschenke bekommen hätte.

Ich erzählte Opa, wie schlimm die Vorstellung gewesen war, weil ich im alten Schulkleid gehen musste und von dem scheußlichen geborgten Kleid und den zu großen Schuhen und dann noch, was sie mit meinen Geschenken gemacht hatte. Er hatte den Kopf gesenkt, aber ich sah Tränen in seinen Augen. Dann sagte er, das verstehe ich nicht. Ich habe Deiner Mutter 500 Mark gegeben, um Dich für die Konfirmation auszustaffieren und 1000 Mark für Deine Aussteuer und Du hast nichts davon bekommen?

Ich war sprachlos und hasste die Alte noch mehr. Opa sagte, das war das letzte Mal, dass ich Eurer Mutter Geld gegeben habe, und das Haus verkaufe ich auch. Das Geld vom alten Haus und vom Stadthaus wird für Euch auf eine Bank gebracht und wenn Ihr einundzwanzig seid, bekommt Ihr es. Ich werde es notarisch festlegen.

Er erzählte uns, wie oft sie da war und immer jammerte, dass Ihr Kinder nichts zu essen habt und soviel für die Schule braucht, und ich habe ihr immer gegeben. Nigg sagte, das ist doch gar nicht wahr. Wir haben seit mindestens einem Jahr nichts mehr Neues bekommen, und für Essen und Heizöl müssen wir auch selber sorgen. Da trat ich mit meinem Fuss gegen sein Schienbein und schüttelte den Kopf. Nigg verstand sofort was ich meinte. Es hätte Opa das Herz gebrochen, hätte er gewusst, dass wir stehlen gehen müssen, und trotzdem hatte ich das Gefühl, dass er irgendetwas wusste.

Er gab uns jedem 10 Mark, und wir mussten versprechen, sie nicht zu Hause herzugeben, was wir auch nicht taten. Nigg kaufte sich Angelzeug und ich einen Stoff und machte mir in der Handarbeit ein neues Kleid. Als die Alte das neue Kleid sah, musste ich lügen und sagte, ich hätte den Stoff von Heidi bekommen. Heidi war

schon informiert und bestätigte meine Aussage. Die hatte keine Angst vor meiner Mutter. Als sie Heidi fragte, woher sie den Stoff habe, sagte Heidi frech, das geht Sie überhaupt nichts an. Meine Mutter hat der Heidi doch wirklich eine runtergehauen. Da gab’s dann Ärger, denn der Großvater von Heidi hat meiner Mutter gedroht, wenn sie nur in die Nähe seiner Enkelin kommt, dass er sie anzeigt. Das war für die Alte zuviel. Ab diesem Tag durfte ich mit Heidi nichts mehr reden, und Heidi wurde der Umgang mit mir auch verboten.

Zuvor hatte sie nie ein böses Wort über die Großeltern oder Heidis Mutter gesprochen, ab er jetzt wurden alle schmutzigen Namen gebraucht. Heidis Mutter sei eine Hure gewesen und sei durch Gottes Gerechtigkeit an einer schlechten Frauenkrankheit gestorben, und die Heidi wird auch nicht besser werden. Das alles scherte uns gar nicht. Wir blieben trotzdem Freundinnen, bis wir zusammen aus der Schule kamen.

Meine Mutter verurteilte all die, die ihr den Rücken kehrten. Anstatt nachzudenken, was sie falsch machte und warum die Leute, die vorher soviel Respekt vor Opa und Oma hatten und auch vor ihr, heute nicht mehr haben. Sie wurde in ihrem falschen Denken von meinem Vater unterstützt und entfernte sich von allen Menschen, die einmal ihre Freunde waren. Mit der Zeit veränderte sich das Bild der sogenannten Angesehenheit. Langsam wollte kein Mensch mehr etwas mit uns zu tun haben. Die Leute sagten immer, es ist nicht wegen Euch Kindern. Eure Mutter und Euer Vater haben dem ehrbaren Namen große Schande gebracht.

Kurz vor dem Ende des Schuljahres verkaufte Opa das Haus an den Schreinermeister Hertle, und die Alten mussten aus dem Haus. Als das geschah, war ich aber schon in Stuttgart und habe den Umzug gar nicht miterlebt. Ich war so froh, dass der Alte nicht mehr in Opas Haus wohnen durfte, jeder fremde Besitzer war mir lieber.