Hoffentlich komme ich nicht zu spät. Warum machen die auch samstags die Molkerei um zwölf Uhr dreissig zu, und warum ist die Schule samstags erst um zwölf aus? Schnell, ich muss nach Hause, die Milchkanne holen und dann zur Molkerei. Warum bezahle ich die Milch nicht wie andere Leute, gleich wenn ich sie kaufe? Immer muss ich sagen, meine Mutter bezahlt später. Die Milchfrau sagt nie etwas, weil sie weiss, die haben ja ein Geschäft, die haben ja Geld. Aber mir war es immer so peinlich. Gott sei Dank, ich habe es gerade noch geschafft. Das wäre eine Katastrophe geworden, wenn keine Milch übers Wochenende im Hause gewesen wäre. Schnell nach Hause, ich habe den Deckel der Milchkanne vergessen, und es fängt an zu regnen. Die Buben sind nicht zu Haus, wahrscheinlich schon wieder fischen, und wir werden doch von jemandem um dreizehn Uhr abgeholt, und wir werden von jemandem um dreizehn Uhr abgeholt.
Ich hatte samstags Dienst an der Tankstelle und Nigg in der Werkstatt. Ich stellte die Milchkanne schnell in die Küche auf den Spülstein und rannte zum Wasser. Die Kirchturmuhr schlug dreiviertel eins, die Buben sind nicht beim Buser am Wasser, vielleicht beim Lembeck. Ich rannte so schnell ich konnte. Das Gewitter war voll im Ort, und es regnete in Strömen, blitzte und donnerte zugleich. Da sind sie. Ich rief, schnell, kommt, wir müssen nach Nördlingen. Völlig durchnässt und kalt rannten wir den gleichen Weg zurück. Nigg versteckte auf dem Weg nach Hause beim Stadtmüller seine Angelrute, und dann waren wir eine Minute später im Hof.
Schock – der Opel-Kapitän ist da, das heisst der Alte ist da. Was sagen wir, wo wir herkommen, weil es ja ein Uhr dreissig ist und wir zu spät? Wir hatten keine Zeit mehr eine Geschichte zu erfinden, da wir schon den verhassten Pfiff hörten und wussten, er hat uns gesehen. Langsam, wie geprügelte Hunde, gingen wir die Treppe nach oben, und da stand “Er”.
Er sagte nur, komm mit, packte mich beim Arm, schleuderte mich in die Küche, zeigte auf die Milchkanne und fragte mich, was ist das? Mein Gehirn arbeitete auf Hochtouren, und ich zitterte aus Angst und weil ich völlig durchnässt und kalt war. Als ich nicht antwortete, zeigte er mir die Milch in der Kanne, und die Milch war gestockt vom Gewitter. Jetzt fiel mir ein, dass ich vergessen hatte, sie in den Steinkrug zu giessen. Da war es – kalt, nass und sauer riechend. Er schüttete die drei Liter saure Milch über meinen Kopf, und ich stand wie versteinert vor Schock und hörte nicht einmal als er sagte, raus in die Waschküche! Auf dem Weg in die Folterkammer betete ich immer, Lieber Gott, lass’ ihn die Treppen hinunterfallen und das Genick brechen oder lass’ mich sterben.
Als ich feststellte, dass er statt des Gummischlauchs eine Schere in der Hand hatte, war ich total konfus. Er sagte, ich lehre Dich Respekt vor Dingen, die Geld kosten. Er schleuderte mich auf einen Stuhl, band mir die Hände auf den Rücken an die Stuhllehne und drohte mir, mich ja nicht zu bewegen. Dann fing er an, Büschel für Büschel wie ein Irrer meine Haare abzuschneiden.
Als die ungleichen Büschel Haare, lange und kurze, nass und verklebt von der sauren Milch, auf den Boden fielen, fühlte ich mich auch so, wie er mich immer nannte, ein Stück dummen Dreck. Dabei schrie ich vor Angst, weil er manchmal meine Kopfhaut mit der Schere verletzte. Irgendwann hörte er auf zu schneiden, und ich spürte kaltes Wasser, das aus dem Wasserschlauch kam. Als “Sie” sah, was geschehen war, fing sie an zu weinen und sagte zu ihm in kleinlauter Stimme, das wäre doch nicht nötig gewesen. Zu mir sagte sie mit bedauernswerter Stimme, das kommt davon, Du vergisst immer die Milch in den Steinkrug zu schütten.
Der eigentliche Schock kam als ich mich im Spiegel sah und wusste, so musste ich in die Schule und ins Geschäft. Er erlaubte mir nicht einmal ein Kopftuch zu tragen. Ich hatte stellenweise eine Glatze, kurze und lange Haare. So hatte ich mir immer eine Hexe vorgestellt.