Offener Brief an Dr. Antje Vollmer

Frau Dr. Antje Vollmer
Vorsitzende Runder Tisch Heimerziehung
Deutscher Bundestag
Platz der Republik 1
11011 Berlin

12. April 2010

Sehr geehrte Frau Dr. Vollmer,

ich muss mein Erstaunen über ihre Äußerung bei der Pressekonferenz im Januar 2010, dass Heimkinder „mithelfen mussten“ und deshalb das Wort Zwangsarbeit keine Gültigkeit hat, zum Ausdruck bringen.

Kann es sein, dass Sie die von mir eingesandten Erinnerungen an das Haus Weiher, eine Erziehungsanstalt der Rummelsberger Anstalten, nicht gelesen haben?

Ich erlaube mir hier eine kurze Zusammenstellung der Fakten zu präsentieren.
Die meisten Zöglinge sollten nur für kurze Zeit im Erziehungsheim bleiben. Um aber die billigen Arbeitskräfte nicht zu verlieren, wurde in vielen Fällen der Heimaufenthalt, unter Vorspiegelung falscher Tatsachen oder unter der Drohung ins Jugendgefängnis zu kommen, verlängert.

In Unkenntnis unserer Rechte und der offensichtlichen Aussichtslosigkeit, unterschrieben wir einen Lehrvertrag. Unsere Vorstellungen wie wir unser Leben gestallten wollten sowie unsere Berufswünsche wurden weder von dem Jugendamt und von der Heimleitung missachtet. Eine weitere Tatsache ist, dass keine der mir bekannten Mitzöglinge eine Strafakte hatte und doch waren wir eingesperrt – unserer Freiheit beraubt, und mussten unter Zwang und unentgeltlich arbeiten.

Diese Fakten könnten durch Vorlage der Heim-Akten belegt werden, wenn diese nicht geflissentlich verschwunden wären. Aber es gibt Zeitzeugen, die diese Lehrverträge noch haben.
Professor Jürgen Blandow [1] dokumentierte ebenfalls, dass die Schule oftmals ausfallen musste, weil Heimkinder mit im Garten und auf Feldern unentgeltlich arbeiten mussten.

Ein Mitglied des Runden Tisch, Frau Sonja Djurovic hat Beweise, dass ihr Aufenthalt im Haus Ruth, nur für eine kurze Zeit sein sollte. Ich nehme an, dass Sie diesen Fall im Detail kennen.

Es gibt keinen Zweifel mehr, dass „Zwangsarbeit“ in fast allen Erziehungsheimen die Regel war. Nicht zu vergessen sind die körperlichen, psychischen und sexuellen Misshandlungen, die viele diese Heimkinder über Jahrehinweg ertragen mussten.

Um das wirkliche, bittere Ausmaß einer Zerstörung von Lebens-Existenzen zu erkennen, bitte ich Sie sich vorzustellen, dass sie in der Kindheit in einem Feld, im Moor, in einer Wäscherei, einer Schneiderei oder anderswo Sklavenarbeiten verrichten mussten, anstatt die Gelegenheit zu bekommen, Ihre heutige Position zu erreichen, die Ihr Leben bereicherte und ihre Alterversorgung sicherte.

Es war genau dieser Zwang, diese Zerstörung unserer Identität und Integrität, dieses Kindheitstrauma und der illegale Freiheitsentzug, was ehemalige Kinder-Zwangsarbeiter machte und zu der heutigen Heimkinderarmut und Rentenmissständen führte. Die Missbrauchsopfer erfahren heute noch einmal, durch die Verweigerung von Entschädigungen und durch die Absagen von Frührentenanträgen, eine Entwertung.

Wir stünden heute in vielen Fällen nicht vor dem Hartz IV Problem hätte man uns das Recht nicht verweigert unser Leben selbst zu gestalten. Die massiven Unterdrückungen, die täglichen Misshandlungen und Entwertungen führten bei vielen zu PTSD, Depressionen, Angstzuständen, Ich-Störungen, während die Unterdrücker/Misshandler durch ihre gesicherte Machtposition sich keine Gedanken um ihre Zukunft oder Alterversorgung machen mussten. Diese sind heute finanziell gut gesichert und können sich noch einmal der Verantwortung entziehen, geschützt durch die Verjährungsfrist.

Es war genau dieser Zwang der Lebensexistenzen zerstörte.
Es war die fehlende Aufsichtspflicht des Staates, die trotz vorhandener Gesetzte, diese Willkür, Unterdrückung und diese Menschenrechtsverletzungen in Heimen mit Blindheit unterstützte.
Sie, Frau Dr. Vollmer wehren sich gegen das Wort „Zwangsarbeit“! Damit schützen Sie das damalige Versäumnis der gesetzlichen Aufsicht.

Eine Ablehnung einer Entschädigungsleistung oder die Ablehnung von Früh/Opferrenten sehe ich als eine weitere systematische soziale Ausgrenzung der in der Kindheit/Jugend Traumatisierten und Entwürdigten.
Ich kann es nur so verstehen, dass das alte Muster der Entwertung noch immer diktiert. Das unzureichende Rentengesetz tut sein Übriges den ehemaligen Zwangsarbeitern zu zeigen was sie Wert sie sind.

Deutschland hat sich durch die Verletzung der Aufsichtspflicht eine große Schuld aufgeladen.

Dieses Versäumnis ermöglichte die Heimleitungen Minderjährige zu minderwertigen Menschen zu machen.

Es sollte dem Staat heute als Pflicht erscheinen den Opfer heute mit Genugtuung und Gerechtigkeit zu begegnen, anstatt systematisch Schadensminderung zu betreiben, oder Opfer als „collateral damage“ zu sehen.

Das Thema Heimkinder ist noch lange nicht aufgearbeitet.

Zuerst waren die Themen Schläge und Prügel akut.
Dann kamen die sexuellen Misshandlungen zum Vorschein. Nun sind die Themen Zwangsarbeit und Menschenrechtsverletzungen an der Reihe.

Sie verstehen Frau Dr. Vollmer, dass wir, die Geschundenen, nichts mehr zu verlieren haben und deshalb solange kämpfen bis alles begangne Unrecht aufgeklärt ist.

Mit freundlichen Grüßen,
Sieglinde Alexander

http://www.taz.de/1/nord/bremen/artikel/1/der-alltaegliche-heimhorror/

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