Mein Deutschland-Urlaub im April 2002 brachte mir außer einer Ohrinfektion eine Erkenntnis, wie die Vergangenheit mit der Gegenwart verbunden ist.
Als ich zehn Tage nach meiner Rückkehr noch immer Ohrenschmerzen hatte fragte ich mich, warum die Antibiotika keine Wirkung zeigten. Noch immer nicht bewusst über die Zusammenhänge, drängte sich mir die Frage auf, warum jetzt diese Schmerzen, nachdem ich in Deutschland war? Was könnte diese Ohrenentzündung mit meinem Besuch in Deutschland zu tun haben? Zuerst sträubte ich ,mich gegen den Gedanken, dass das Verhalten meines Vetter Karl etwas damit zu tun haben könnte. Ich konnte aber nicht übersehen, dass es Karl war, den ich getroffen hatte und der mich an meine Kindheit erinnerte, indem ich das Verhalten meiner Mutter in seinen Wutausbrüchen, seiner Selbstgerechtigkeit, der Abwertung anderer Menschen und in seinen falschen Beschuldigungen erkannte.
Ich war der Einladung von Karl gefolgt, da ich noch immer im stillen hoffte einen Menschen in meiner Familie zu finden, der Menschlichkeit besitzen würde und der nicht von den Folgeschäden einer misshandelten Kindheit geprägt wäre. Schließlich war Karl doch der Sohn meiner Lieblingstante, einer Frau, die ich sehr verehrt hatte.
Gleich nach meiner Ankunft in Augsburg bat mich Karl, sein E-Mail-Programm in Ordnung zu bringen. Ich sah seine gegrenzten Computerkenntnisse und stellte ihm das Programm so ein, dass er ohne weitere technische Kenntnisse leichten Zugang hatte. Geduldig erklärte ich eine Stunde lang die paar einfachen Schritte. Dann ermunterte ich ihn, als Übung E-Mails zu verschicken. Es war mein letzter Tag in Deutschland und ich würde ihm helfen, sagte ich ihm, wenn er nicht weiter komme.
Fünf Minuten später konnte er seine E-Mails nicht verschicken. Ich rief den Onlineservice an, um mir meinen Verdacht, dass es ein Server Störung war, bestätigen zu lassen. Karl hatte mittlerweile begonnen, durchs Zimmer zu laufen. Als ich begann, ihm das Problem zu erklären, geriet er Rage und schrie, ich hätte seinen Computer vermasselt, wie all die anderen sogenannten Fachleute. Sein Zorn war voll im Gange. Er schrie rum, kritisierte, beschimpfte mich und schlug die Türen zu. Das war der Auslöser, der in mir die Vergangenheit wieder hochkommen lies und die Gegenwart verschmolz mit der Vergangenheit. Ich reagierte wie ein hilfloses Kind! Von Angst völlig gelähmt, saß ich im Zimmer und ließ die Beleidigungen dieses Mannes über mich ergehen!
Alle Türen zur Vergangenheit waren weit offen und ich sah ein Bild, eine Erinnerung, die jahrelang unter den vielen anderen Erlebnissen begraben war: in der Wut dieses Mannes erkannte ich meine tobende Mutter wieder! Wie Karl jetzt, war auch sie laut schreiend durchs Haus gestampft und hatte jeden einen Idioten genannt. Was für eine Ähnlichkeit, dachte ich. Beide, Karl und meine Mutter, zeigen das gleiche Verhaltensmuster, indem sie ihre Unfähigkeit auf andere projizierten. Mitten im Wiedererlebens des Traumas erschien ein anderes Bild, welches ich mit aller Macht versuchte zu unterdrücken. Ich sah, wie mein Opa wütend durch das Haus lief und die Türen zuschlug und meine Oma, die neben mir sitzt und ihr weinendes Gesicht bedeckt. Ich wollte es nicht sehen dieses Bild, denn meinen Opa liebte und verehrte ich am meisten.
Jahrelang hielt ich an der Phantasie fest, dass mein Opa der Beste war. Meine Erinnerung an ihn war: Opa war immer lustig, sanft und gütig. Die nun präsenten Bilder vernichteten alles, was ich bis zu diesem Zeitpunkt anscheinend als eine gute Erinnerungen aufrecht erhalten musste, damit meine Kindheit nicht völlig von Misshandlungserinnerungen dominiert wurde. Jetzt aber sah ich einen Opa, der nicht der Mann meiner Idealisierung war. Stattdessen war er ein wütender, cholerischer alter Mann, der mir Angst machte. Meine Welt brach unter dieser Wahrheit, die ich jetzt so deutlich sah, zusammen. Mit diesem Zusammenbruch einer jahrelangen hoffnungsgebenden Fantasie öffnete sich ein weiteres Fenster zu einer dazugehörigen Erinnerung.
Ich war sieben Jahre alt, als meine Mutter vom Krankenhaus zurückkam, nachdem sie meinen jüngsten Bruder Siegfried zur Welt gebracht hatte. Siegfried musste im Krankenhaus bleiben und mein zweiter Bruder Hans war ebenfalls dort wegen eines Leistenbruchs. In diesen Tagen bekamen wir jeden Tag eine ekelhafte Reissuppe zu essen. Tage zuvor erlebte ich, wie mein Vater meinen Großvater schlug. Opa lag weinend auf dem Boden, während mein Vater brüllte und ihn mit den Füssen trat. Ich hatte Angst und wollte das Weinen und die Schreie nicht mehr hören und wünschte mir Stöpsel in meinen Ohren. Ich fühlte mich so hilflos.
Nur ein paar Tage, nachdem meine Mutter aus dem Krankenhaus zurück war, spürte ich einen stechenden Schmerz in meinen Ohren. Ich sagte nichts. Es war sinnlos, meiner Mutter zu erzählen, dass ich Schmerzen hatte. Ihre Antwort war immer die gleiche:„ sei nicht so empfindlich“.
Diese Erinnerung folgte mir bis nach Hause in den USA, wo ich den Zusammenhang zu meiner Ohrinfektion erkannte.
Dann geschah folgendes: Zwölf Tage nach meiner Rückkehr aus Deutschland wachte ich mitten in der Nacht auf. Schläfrig tastete ich über mein Kissen und dann an meine Ohren und mein Haar. Plötzlich war ich hell wach, die Erinnerung, die ich 45 Jahre unterdrückt hatte, schoss mir lebhaft ins Bewusstsein und zeigte unmissverständlich ihre Bedeutung:
Es war damals, acht Tage nachdem ich gesehen hatte, wie mein Vater meinen Großvater geschlagen hatte. Meine Mutter war gerade aus dem Krankenhaus zurückgekommen, als ich früh morgens mit einem stechenden Schmerzen in meinen Ohren aufwachte. Meine Hand versuchte mein Ohr zu berühren. Das ging aber nicht, weil mein Ohr und Haar am Kissen festklebten. Es roch außerdem furchtbar. Das Gelb-Klebrige kam aus meinem Ohr, so dass mein Haar und Ohr an dem Kissen klebte. Ich weinte still, während ich versuchte, mein Haar vom Kissen zu lösen. In diesem Augenblick kam meine Mutter ins Zimmer und sagte, ich solle aufstehen. Als sie mein Ohr und die Ausscheidungen der Infektion auf dem Kissen sah, sagte sie: “Oh nein, auch das noch, nicht heute! Steh´ auf!“, befahl sie. Sie brachte einen nassen Waschlappen und sagte, ich solle diese Sauerei abwaschen. Dass ich krank war und Fieber hatte war ihr egal, alles was sie dachte war, dass ich ihre Pläne durchkreuzte. Ärgerlich sagte sie, dass ich mich im Auto anziehen sollte und reichte mir mein Kleid. Zehn Minuten später waren wir auf dem Weg zum Krankenhaus, wo meine beiden Brüder waren. Auf dem Weg dorthin, lag ich stöhnend vor Schmerzen auf dem hinteren Sitz. Mein Vater schrie meine Mutter an, sie solle dafür sorgen, dass ich aufhörte zu weinen. Meine Mutter schrie mich an, ich solle aufhören zu weinen, da man sowieso nichts gegen meine Ohrenschmerzen tun könne. Ich versuchte, nicht mehr zu weinen. Ich unterdrückte den Schmerz aus Angst, dass mein Vater dann wieder schreien oder mich schlagen würde. Ich weinte leise in das kleine Kissen. Als wir am Krankenhaus ankamen, sagte mein Vater zu meiner Mutter: “Die bleibt im Auto. Ich brauche kein Geheule, wenn wir mit dem Arzt sprechen“. So blieb ich mit Schmerzen stundenlang verlassen im Auto. Auf unserem Rückweg nach Hause war es bereits dunkel und meine Schmerzen wurden stärker und ich begann wieder laut zu jammern. Plötzlich schrie mein Vater auf meine Mutter ein, „wenn sie nicht aufhört dann werfe ich dich und sie aus dem Auto“. Dann schrie sie mich an, dass ich das dämliche Geweine aufhören solle und sie hätte jetzt genug von meinem Gejammer. Ich schluckte den Schmerz.
Zurück zur Gegenwart, in der ich, hellwach im Bett sitzend verstand, wie eine Erinnerung an ein Trauma die an ein anderes Trauma verbindet. ich sah, wie meine Mutter dasselbe Muster der Unterwürfigkeit meiner Großmutter wiederholte. Die Schwäche meiner Mutter war die gleiche Angst, die ich in meiner Oma sah, wenn mein Opa zu schreien begann. Meine Mutter schrie mich an, weil sie sich von meinem Vater eingeschüchtert gefühlte so wie Oma, die immer ihre Augen aus Angst senkte, wenn mein Opa wütete. Meine Mutter wiederholte dieses Muster. Sie gab ihre Hilflosigkeit an mich weiter, weil sie nicht wusste, was sie sonst tun sollte.
Die bleibende Information, eingebrannt in mein Unterbewusstsein war, ich war nicht wichtig, war nur irgendjemand, der Aufmerksamkeit verlangte, die sie, meine Mutter, nicht geben konnte. In ihrer Angst zeigte sie eine Co-Abhängigkeit und befriedigte die Wünsche meines Vaters, indem sie meine kindlichen Bedürfnisse verachtete. Diese Vernachlässigung war für meine Mutter leichter zu ertragen, weil ich keine Macht über sie hatte und deshalb keine Bedrohung für sie war. Ich war ein hilfloses Kind, das sie nicht zurückschreien durfte. So opferte meine Mutter mich ihrer eigenen Angst, und ihrer Unfähigkeit, die Bedürfnisse eines Kindes zu stillen.
Sie hat meine Bedürfnisse abgelehnt und vernachlässigt und mich dafür bestraft, krank zu sein. So habe ich sehr früh schon gelernt, meinen Schmerz zu ignorieren, ihn zu ertragen und keine Schwierigkeiten zu machen.
Der logische Teil in mir verwarf die Idee, dass ich die Ohrenentzündung hatte, weil ich nicht hören wollte, dass Karl oder irgendjemand sonst mich anschrie. Ich musste darüber reden; Ich brauchte jemanden, der mir bestätigen konnte, dass es solche zusammenhängenden Reaktionen gibt. Ich versuchte mit meinem Ehemann zu sprechen, aber er wollte meine Geschichten nicht wirklich hören. Er meinte, ich solle zum Arzt gehen, um mehr Antibiotika zu bekommen. Außer meiner Freundin Maus hatte ich niemand, der mir zuhörte und meine Gefühle verstand. Mein Therapeut glaubte nicht, dass psychologische Gründe die physische Krankheit verursacht haben könne.
Es war vernichtend, die Tatsache anzuerkennen, dass ich keine guten Großeltern hatte. Jahrelang hielt an einer Phantasie von Güte fest, weil ich so dringend eine gute Erinnerung brauchte.
Die Realität war, ich wurde allein gelassen, vernachlässigt und war hilf- und wehrlos gegen die, die mich „pflegten“ und aufzogen. Ich war nicht wichtig und mein Schmerz war nur eine Bürde für die anderen. Andererseits behauptete die Natur ihr Recht und drängte sich jetzt wieder in mein Bewusstsein mit einer erneuten Ohrenentzündung.
Es war Zeit der Wahrheit gegenüberzustehen, zu lernen mich selbst zu verteidigen, meine Bedürfnisse zu erfüllen und niemandem mehr zu erlauben, meine Grenzen zu ignorieren oder zu verletzen.
Trigger- Momente, wenn also Erlebnisse der Gegenwart eine übermäßige emotionale Reaktion in uns auslösen, sind Hinweise auf unterdrückte Gefühle. So schmerzhaft solche Erinnerungen sein mögen, sie öffnen auch zugleich verschlossene Türen und geben uns eine Gelegenheit, den verdrängten, nicht gelösten Schmerz zu fühlen, den wir anders nicht heilen können.
Wenn uns als Kind nicht erlaubt wurde, zu fühlen oder unseren Schmerz auszudrücken, dann bleibt der Schmerz emotional stecken und als Ursache für spätere Reaktionen unerkannt. Jede ähnliche Schmerzerfahrung, die wir dann als Erwachsene machen, fühlen wir mit immer größerer Intensität, da der vom Schmerz der Vergangenheit schon vorprogrammierte Schmerz mit empfunden wird. Wenn keine Heilung des Kindheits-Traumas statt findet, werden wir für den Rest unseres Lebens von jeder gegenwärtigen ähnlichen Situation getriggert und erleben immer wieder erneut das alte Trauma.